Vagus-Stimulation bei Kopfschmerzen
PROBLEMFELD KOPFSCHMERZ
Die medikamentöse Behandlung chronischer Kopfschmerzen (chronische Migräne, chronischer Spannungskopfschmerz, chronischer Cluster-Kopfschmerz, Hemikrania acuta, Medikamenten-Übergebrauch-Kopfschmerz) stellt eine Herausforderung dar, weil einerseits Pharmaka-Nebenwirkungen die Therapie erschweren können und andererseits auch nicht alle Patienten darauf ansprechen.
In einer spezialisierten Praxis wie der unseren häufen sich Fälle sogenannter therapiefefraktärer Kopfschmerzen. Was aber tun, wenn nichts bisher geholfen hat? Längst wurden aufwändige Verfahren entwickelt wie die tiefe Hirnstimulation, die Occipitalnervenstimulation, die Stimulation des Ganglion sphenopalatinum und die invasive Vagusnervstimulation. Das ist jeweils mit Operation und entsprechendem Risiko behaftet, sodaß diese Methoden in der Praxis eine untergeordnete Rolle spielen.
Wir wenden nichtinvasive Verfahren an, für die Wirksamkeitsbelege existieren und die nicht riskant sind: die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS), die intravenöse Na-Kanalblockade mit Procain-Bikarbonat (Infusionsbehandlung) und die noninvasive Vagusnerv-Stimulation, alle 3 Verfahren in Kombination, intensiv und hochfrequent (täglich über 2 Wochen), gelegentlich (eher selten) auch die repetitive transkranielle elektromagnetische Stimulation (rTMS). In diesem Kapitel unserer Darstellung spezieller schmerztherapeutischer Verfahren erläutern wir Ihnen die noninvasive Vagusnerv-Stimulation, über deren Wirksamkeit international wissenschaftlicher Konsens besteht.
Sehr lange schon (etwa seit 20 Jahren) findet die Vagusnerv-Stimulation Anwendung in der Behandlung medikamentös nicht erreichbarer Epilepsien und Depressionen.
WAS GENAU IST DER VAGUSNERV?
- Er ist der zehnte und größte Hirnnerv und übermittelt unter anderem über sogenannte sensorische Fasern Informationen von den Körperorganen an das zentrale Nervensystem
- Er besteht überwiegend (zu etwa 80 %) aus diesen afferenten, sensorischen Nervenfasern und zu 20 % aus efferenten (von „zentral“ nach „peripher“ verlaufenden, motorischen Nervenfasern
- Der Nervus vagus erstreckt sich vom Hirnstamm durch den Hals hindurch im Inneren der Halsschlagader-Scheide (arteria carotis) über den Brustkorb bis hinein in den Bauchraum
- Er spielt bei der Funktion fast jedes Organs eine wichtige Rolle und ist bei der unterbewussten und bewussten Überwachung unseres körperlichen Befindens durch das autonome Nervensystem von elementarer Bedeutung. Er wird oft auch als „Erholungsnerv“ bezeichnet und ist im autonomen (=vegetativen,=selbständigen) Nervensystem der Gegenspieler des Sympathikus („der Antreibernerv“).
WAS IST EINE VAGUSNERV-STIMULATION?
- Eine Vagusnerv-Stimulation ist der Einsatz feiner elektrischer Ströme zur Stimulation des Vagusnervs
- Diese elektrischen Impulse können direkt über implantierte Elektroden oder (wie bei uns) nichtinvasiv durch Anlegen eines handlichen, patientenfreundlichen Stimulations-Gerätes an den Vagusnerv (im Halsbereich) angelegt werden.
- Die Stimulation wirkt auf übergeordnete Hirnzentren und hat zur Folge, daß vermindert Glutamat freigesetzt wird, das eine wichtige Rolle bei der Schmerzentstehung spielt. Die Therapie setzt also an einer der Ursachen an und ist nicht rein symptomatisch oder „betäubend“.
- Die aktuelle Entwicklung einer eigenen Elektrodenkonfiguration und eines differenzierten Signals ermöglicht eine transkutaneStimulation des Vagusnervs und bietet damit eine neuartige therapeutische Option bei primärem Kopfschmerz.
WISSENSCHAFTLICHE RATIONALE (FÜR ÄRZTE)
Die A- und B-Fasern der sensorischen, afferenten Vagusnerven werden gereizt und führen zur Produktion inhibitorisch wirksamer Neurotransmi
tter, die ihrerseits die Glutamatsynthese reduzieren: weniger Glutamat, weniger Schmerz.
Die Stimulation erreicht über die A- und B-Fasern folgende Hirnzentren: den Nucleus tractussolitarius (NTS), die Amygdala, die dorsalen Raphek
erne, den Locus caeruleus, den Nucleus ambiguus, den motorischen Nucleus dorsalis nervi vagi, den Nucleus parabrachialis, den Hypothalamus und den Thalamus.
ANWENDUNGSBEREICHE
Die nichtinvasive Vagusnerv-Stimulation (nVNS) ist ein neuartiges nichtmedikamentöses und nichtoperatives Behandlungsverfahren für Patienten mit
- medikamentenindinduzierten Kopfschmerzen (sog. Medikamenten – Übergebrauchkopfschmerz)
- Migräne mit und ohne Aura
- Cluster-Kopfschmerz (Bing Horton-Kopfschmerzen)
- Hemikrania akuta
- Spannungskopfschmerz (episodisch und chronisch)
mit Hilfe eines patientenfreundlichen, tragbaren Gerätes, das milde elektrische Signale abgibt.
ABLAUF
Die Stimulation wird über ein tragbares Gerät in der Größe eines Mobiltelefons verabreicht, das ein einziges elektrisches Signal erzeugt. Auf die Stimulationsoberfläche des Geräts wird ein elektrisch leitfähiges Gel aufgetragen, bevor das Gerät am Hals platziert wird. Es dauert ungefähr 2 Minuten, um eine einzelne Dosis zu verabreichen (möglicherweise ist mehr als eine Dosis pro Behandlung erforderlich).
Stimuliert wird der zervikale Ast (der „Halsast“) des Vagusnervs transkutan (über die Haut) elektrisch durch Auflegen des Gerätes an der Halsaußenseite.
Der schmerzblockierende Effekt beruht darauf, daß bei Reizung dieses sechsten Hirnnervs afferente A- und B-Fasern des Vagusnervs erregt werden und hierunter in den höhergelegenen Hirnzentren inhibitorische Neurotransmitter freigesetzt werden. Das führt zur Hemmung der Glutamatsynthese im trigeminalen Nucleus caudalis (TNC). Folge: der Glutamat-vermittelte Schmerz läßt nach.
WELCHE ZIELE VERFOLGEN WIR MIT DIESER THERAPIE
Die nichtpharmakologische, patientenfreundliche zusätzliche Behandlungsoption ist geeignet,
- den Gesamt-Medikamentenverbrauch zu senken
- Medikamente überhaupt erst wieder wirksam oder besser wirksam sein zu lassen
- Attacken schnell zu beenden
- die Attackenhäufigkeit, –intensität und -dauer zu senken
MÖGLICHE NEBENWIRKUNGEN
- Vorübergehende Hautrötung an der Kontaktstelle
- Vorübergehender Juckreiz an der Kontaktstelle
- Vorübergehende Heiserkeit
SICHERHEITSPROFIL
Die noninvasive Vagusnerv-Stimulation weist keine Nebenwirkungen herkömmlicher Medikationen oder kardiale oder respiratorische Wirkungen auf
- Die noninvasive Vagusnerv-Stimulation weist keine Nebenwirkungen von Analgetika oder Narkotika auf
- Die noninvasive Vagusnerv-Stimulation beruht auf der Aktivierung von afferenten A-und B-Fasern im Vagusnerv, was keine negativen kardialen oder respiratorischen Auswirkungen mit sich bringt.
- In einer prospektiven, multizentrischen Pilotstudie mit Forschungsausnahmegenehmigung wurden keine Nebenwirkungen während oder nach der Stimulation berichtet. Es bestanden keine signifikanten Veränderungen des Elektrokardiogramms, der Herzfrequenz oder dem systolischen oder diastolischen Blutdruck.
- Die noninvasive Vagusnerv-Stimulation sollte nicht bei Patienten mit implantiertem Herzschrittmacher, Hörgeräteimplantat oder einem an
deren implantierten elektronischen Gerät angewendet werden. Die Therapie sollte nicht bei Patienten mit diagnostizierter Gefäßverengung (Arteriosklerose der Carotis) oder mit vorhergehender Operation, in der der Vagusnerv im Hals durchtrennt wurde, angewendet werden. - Vorübergehende Nebenwirkungen können Heiserkeit, Kurzatmigkeit, Stimmveränderungen und Hautreizung umfassen. Diese sind nicht
behandlungsbedürftig und klingen von allein ab.
GEGENANZEIGEN
Die noninvasive Vagusnerv-Stimulation sollte nicht bei Menschen mit implantiertem Herzschrittmacher, Hörgeräteimplantat oder einem im
plantierten elektronischen Gerätangewendet werden. Sie sollte auch nicht bei Patienten mit diagnostizierter Gefäßverengung (Arteriosklerose der Carotis) oder wenn in einer vorhergehenden Operation der Vagusnerv im Hals durchtrennt wurde.
GESCHICHTE DER VAGUSNERV-STIMULATION (VNS)
- Im Jahr 1997 erhielt die Firma Cyberonics die erste FDA-Zulassung für einen operativ implantierten Vagusnervstimulator zur Behandlung refraktärer Epilepsie.
- Empfänger implantierter VNS-Geräte begannen von zusätzlichem klinischem Nutzen zu berichten, einem Rückgang von Depressions- und Kopfschmerzsymptomen.
- 2005 konnte Cyberonics die FDA-Zulassung zur Behandlung refraktärer Depressionen erwerben.
- Seit 25 Jahren wurde die implantierte VNS bei über 100.000 Patienten gefahrlos und effizient zur Behandlung von Epilepsie (und ab 2005in den USA auch von Depressionen) eingesetzt.
- Seit einigen Jahren werden chronische Kopfschmerzsyndrome mit Vagusnerv-Stimulationen behandelt.
KOSTEN
Die noninvasive Vagusnerv-Stimulation ist ein Selbstzahlerleistung. Sie ist nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) enthalten.
Im GKV-Sprachgebrauch ist sie eine individuelle Gesundheitsleistung (IgeL), die nicht erstattet wird. Manchmal (selten) erhalten Privatversicherte, Heilfürsorge-Berechtigte und Patienten der KVB eine Erstattung, weshalb wir empfehlen, vor Inanspruchnahme der Leistung die Kostenübernahme zu klären. Wir treten grundsätzlich nicht in Verhandlungen mit den Kassen. Für uns bleibt nur der Patient Ansprechpartner.
Wir berechnen jeweils pro Behandlungstag 2 x (da wir 2x 90 sec stimulieren) die Analogziffer 831 mit dem 1,7-fachen Satz (möglich wäre der 2,3fache Satz), pro Behandlungstag also 15,84/Tag. Bei den empfohlenen 10 Anwendungen entfällt auf die noninvasive Vagusnerv-Stimulation also ein Betrag von
158,40 €.
Wissenschaftlicher Wirksamkeitsnachweis
1. Lainez, M. J. & Jensen, R. Noninvasive neuromodulation in cluster headache. Curr. Opin. Neurol. 28, 271-276, doi:10.1097/wco.0000000000000196 (2015).
2. Nesbitt, A. D., Marin, J. C., Tompkins, E., Ruttledge, M. H. & Goadsby, P. J. Initial use of a novel noninvasive vagus nerve stimulator for cluster headache treatment. Neurology 84, 1249-1253, doi:10.1212/wnl.0000000000001394 (2015).
3. Cecchini, A. P. et al. Vagus nerve stimulation in drug-resistant daily chronic migraine with depression: preliminary data. Neurol. Sci.30 Suppl 1, S101-104, doi:10.1007/s10072-009-0073-3 (2009).
4. Goadsby, P. J., Grosberg, B. M., Mauskop, A., Cady, R. & Simmons, K. A. Effect of noninvasive vagus nerve stimulation on acute migraine: an open-
label pilot study. Cephalalgia 34, 986-993, doi:10.1177/0333102414524494 (2014).
5. Lenaerts, M., Oommen, K., Couch, J. & Skaggs, V. Can vagus nerve stimulation help migraine? Cephalalgia 28, 392-395 (2008).
6. Martelletti, P. et al. Neuromodulation of chronic headaches: position statement from the European Headache Federation. J. Headache Pain 14, 86, doi:10.1186/1129-2377-14-86 (2013).
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